Freiheit – von unschätzbarem Wert (SVZ 08-10-2014)
Davon berichtet Politikwissenschaftlerin Dr. Sandra Pingel-Schliemann bei einer Lesung zur DDR-Geschichte im Lübzer Gymnasium
LübzHary Krause stirbt mit zehn Jahren auf dem zugefrorenen Goldensee bei Groß Thurow im Altkreis Gadebusch. Es ist der 31. Januar 1951, als er gemeinsam mit Freunden auf dem damaligen Grenzgewässer Schlittschuhlaufen möchte. Bislang ist immer alles gut gegangen, nur an diesem besagten letzten Tag im Januar nicht. Ein neuer Grenzpolizist hatte seinen Dienst angetreten. Als er die Kinder auf dem See entdeckte, löste sich „zufällig“ ein Schuss aus seiner Waffe und traf den zehnjährigen Jungen Hary Krause – mitten ins Herz.
Der Junge aus Groß Thurow ist einer von vielen Grenztoten der Deutschen Demokratischen Republik und ist eine Geschichte, die Politikwissenschaftlerin Dr. Sandra Pingel-Schliemann in ihrem Buch „Ihr könnt doch nicht auf mich schießen – Die Grenze zwischen Lübecker Bucht und Elbe 1945 bis 1989“ erwähnt und in einer Lesung im Eldenburg-Gymnasium Lübz (EGL) vorliest.
Gemeinsam mit elf Schülern des Gymnasiums hatte sie im Juli dieses Jahres eine Radtour entlang der innerdeutschen Grenze gemacht, ihr Buch lieferte die Grundlage für den mehrtägigen Ausflug in gelebte Geschichte. „Wir haben vor Ort, in den Orten, die damals im Grenzgebiet lagen, Zeitzeugen getroffen. Was sie uns erzählt haben, war sehr interessant“, erzählt Merel de Baat, die ebenfalls an der Radtour teilgenommen hat. „Ihr werdet durch eure Radtour und das Erlebte jetzt zu Multiplikatoren, zu Zeitzeugen. Erzählt es anderen, was euch die Zeitzeugen vor Ort erzählt haben“, sagt Sandra Pingel-Schliemann in der Lesung.
Die Politikwissenschaftlerin ist in Lübz aufgewachsen, hat die DDR als Jugendliche hautnah miterlebt. Heute, 25 Jahre später, beschäftigt sie sich mit unbeantworteten Fragen. „Wir wissen soviel aus dieser Zeit nicht, weil viele Akten noch nicht durchgearbeitet wurden. Wir wissen immer noch nicht, wie viele Menschen im Grenzgebiet von Mecklenburg-Vorpommern ums Leben gekommen sind“, erzählt die Autorin. Sandra Pingel-Schliemann hat die Wende hautnah miterlebt. „Mein Jahrgang war der erste, der ein West-Abitur machen durfte. Ich gehöre zur sogenannten 3. Generation Ost“, erzählt sie. Das heißt, dass sie nach der Wende selbst entscheiden durfte, was sie studieren möchte. „Die politische Auseinandersetzung hat mich gereizt. Und außerdem gehört es zu meiner eigenen Geschichte“, verdeutlicht die Politikwissenschaftlerin.
Auch Uwe Rutkowski gehört zu den Zeitzeugen. Heute ist er 72 Jahre alt, kann sich aber an viele Details noch erinnern, als wären sie erst gestern geschehen. „Ich war damals 19 Jahre alt, als ich Grenzsoldat wurde“, berichtet er den Schülern im Atrium des EGL. Doch schnell wechselt er die Seiten, weil er erkennt, dass vieles nicht stimmt, was erzählt wird. „Ich habe anderen zur Flucht verholfen. Bei der dritten wurde ich dann erwischt und zu neun Jahren Zuchthaus verurteilt“, erzählt der 72-Jährige.
Hary Krause wäre heute 74 Jahre alt, wenn er noch leben würde. „Dieser Mord an dem Jungen muss aufgeklärt werden, rein zufällig löst sich kein Schuss aus einer Waffe und trifft vor allem nicht direkt ins Herz. Es muss noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden“, sagt Anne Drescher, Landesbeauftragte für Mecklenburg-Vorpommern für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Nicht nur Sandra Pingel-Schliemann weist die Jugendlichen an diesem Nachmittag im Atrium des EGL darauf hin, wie wertvoll ihre Freiheit ist. „Ich selbst habe es erlebt, was es heißt, nicht frei zu sein. Und heute empfinde ich meine Freiheit nicht als selbstverständlich.“ Auch Lehrer Torsten Schwarz erinnert: „Erkennt, dass Freiheit und Mündigkeit von unschätzbarem Wert sind. Denn in der DDR wurde dies einem Teil der Jugend aberzogen.“
Sabrina Panknin