9. November 2019

„Am Anfang war das Wort, …“

Wörter und Sprache sind allgegenwärtig, ihre Macht, das wird im Alltag nur zu sehr bewusst, mitunter gewaltig.

Mit einer Beeinträchtigung etwas essen: Die Lübzer Schüler probierten selber aus, wie schwer das sein kann. Foto: Gustafs Kaupers

Mit einer Beeinträchtigung etwas essen: Die Lübzer Schüler probierten selber aus, wie schwer das sein kann. Foto: Gustafs Kaupers

Du bist gerade 18, dein Führerschein steckt in der Tasche, die Zeit des begleitenden Fahrens liegt hinter dir, du kommst mit dem eigenen Auto, zur Hälfte selbst finanziert, zur Schule. Der Tag kann kommen an diesem Morgen. Erwartungsvoll fährst du Richtung Lübz, bist vorsichtig, denn leichter Flockenfall und Temperaturen um den Nullpunkt mahnen dich … und trotzdem passiert das Unvorhersehbare.Wie? Warum? Weshalb dir? Als du aufwachst, kannst du dich an nichts erinnern, gar nichts. Und noch heftiger, du liegst auf der Intensivstation, seit Wochen schon und bist an Schläuche angeschlossen, hilflos. Du kannst dich nicht mitteilen, auf Fragen nicht antworten. Du bist ohne Sprache –  griechisch ἀφασία – aphasía.

Durch einen Aufprall des Kopfes ist dein Sprachzentrum im Gehirn „durcheinander gewirbelt“, nichts an seinem Platz, wie, wenn jemand dein Zimmer ausgeräumt und „falsch“ wieder eingeräumt hat, „die Socken in den Kühlschrank, die Butter in die Kommode“, erklärt Frau Freier.  Ingrid Freier leitet das Aphasiker-Zentrum Plau am See, sie definiert: “Aphasie ist eine Sprachstörung, die nach Verletzung am Gehirn entstehen kann, nach einem Verkehrsunfall, einem Schlaganfall oder z.B. im Falle eines Tumors“. Sehr häufig ist auch eine Halbseitenlähmung Folge der Schädel-Hirn Verletzung. An diesem 07. November 2019 sitzen in zwei Durchgängen 65 Elftklässler im großen Kunstraum des Eldenburg-Gymnasiums Lübz und lauschen dem einführenden interaktiven Vortrag Frau Freiers, die anschließend Interviews mit Andrea und Ramona, beide Betroffene, führt und dann zur Diskussion und Fragen auffordert. Als Andrea B. von ihrem Verkehrsunfall berichtet herrscht eine betroffene Stille. Ihr Wunschberuf ist Lehrerin und sie stand kurz vor dem zweiten Staatsexamen als das Unvorhersehbare passierte. Sie kann sich an den Unfall im November nicht erinnern, dafür umso besser an die erste Zeit danach, als sie nicht mehr sprechen und laufen konnte. Es folgte ein langer Weg der Rehabilitation mit zahllosen Therapien und Klinikaufenthalten, der bis heute andauert. Sie ist stolz, inzwischen ihren Alltag selbstbestimmt und eigenständig zu meistern. Dass sie heute vor den Schülern steht und mit ihnen über ihr Leben spricht, ist Berufung.

Aphasiker 2Neu ins bewährte Projekt aufgenommen wurde das Ausprobieren therapeutischer Apps. Sich digital zu testen war von besonders hohem Interesse für die Jugendlichen. Johanna sagt: „Wir haben in Gruppen verschiedene Tabletts ausprobiert um das Gedächtnis zu trainieren.“ Zum Abschluss, im praktischen Teil der Veranstaltung, motiviert Andrea, die vor dem Unfall als Referendarin für Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in Neubrandenburg arbeitete, die Schüler, einhändig Kartoffeln zu schälen und Brötchen aufzuschneiden

Aphasiker 3Viele Dinge, die im Alltag selbstverständlich sind, werden mit einer Halbseitenlähmung plötzlich zur Herausforderung. „Ich bin erstaunt darüber, wie schwierig ein Leben nach einem Unfall oder Schlaganfall sein kann und ich habe erkannt, dass nicht alles selbstverständlich ist“ oder: „Das Zubereiten von Mahlzeiten war schwierig und ich bin froh, dass ich gesund bin.“, aber auch „Ich finde es erstaunlich, wie Menschen mit ihrer Behinderung umgehen und trotzdem positiv ins Leben schauen.“; sowie: „Die Tatsache, dass es jeden treffen kann, hat mich zum Nachdenken angeregt.“ sind nur einige der nach der Veranstaltung eingesammelten Kommentare der Teilnehmer.

Ein Projekt zur Verkehrsunfallprävention, Integration und Information zur Berufswahlkompetenz im medizinischen und therapeutischen Umfeld.

Die Organisation am Eldenburg-Gymnasium übernahm die Schulsozialarbeiterin Carola Henkelmann.

Fotos: Gustafs Kaupers (Lettland)

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